Wenn die Stimme etwas zur Diagnose sagt
Ein herzliches Lachen, ein genervtes Schnauben oder verschwörerisches Geflüster – der Klang der Stimme kann viel verraten. Auch etwas über allfällige Symptome von Multipler Sklerose, wie Dr. med. Helly Hammer in einer Studie untersuchte.
Ob beim Sprechen, Gehen oder wenn wir Emotionen empfinden – wir verlassen uns bei all dem auf unser zentrales Nervensystem. Dieses umfasst die im Gehirn und Rückenmark gelegenen Nervenstrukturen, welche sämtliche auf das zentrale Nervensystem wirkende Reize verarbeiten und koordinieren. Dieser Prozess ermöglicht uns bewusstes und unbewusstes Denken, die Kontrolle über unsere Motorik, aber auch die Funktionen unseres Gedächtnisses und das Empfinden von Gefühlen.
Multiple Sklerose (kurz MS) beschädigt dieses zentrale Nervensystem. Die chronische Erkrankung zerstört die Myelinhülle der Nerven und führt zu Entzündungen sowie zur Degeneration des zentralen Nervensystems. «Multiple Sklerose gehört zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen, die bei jungen Erwachsenen zu einer Behinderung führen können. Weltweit sind ungefähr 2,3 Millionen junge Erwachsene betroffen, davon allein in der Schweiz 18 000», hält Dr. med. Helly Hammer, Oberärztin und Leiterin der Tagesklinik Neuro an der Universitätsklinik für Neurologie des Inselspitals, fest.
MS wird oft als Krankheit der 1000 Gesichter bezeichnet. Denn die Symptome fallen sehr unterschiedlich aus und reichen gemäss Helly Hammer von Schwäche, Spastizität (übermässige Verkrampfung der Muskeln), Seh-, Gang- und Koordinationsstörungen über Fatigue, Depressionen und kognitive Einschränkungen bis hin zu gestörten Blasen- und Sexualfunktionen.
Nicht-motorische Symptome in den Fokus gerückt
Der Fokus bei der Diagnose und Behandlung von Multipler Sklerose liegt darauf, sogenannte Schübe sowie das Fortschreiten der Krankheit und damit verbunden eine sensomotorische Behinderung zu verhindern. Mit den heutigen therapeutischen Möglichkeiten kann insbesondere die Regelmässigkeit der Schübe deutlich reduziert werden. Dies hat wiederum Auswirkungen auf die Forschung und Behandlung von Multipler Sklerose, wie Helly Hammer erläutert: «Mit den neuen therapeutischen Möglichkeiten rücken nun auch Symptome wie Depressionen, kognitive Defizite und Fatigue – im Übrigen eines der häufigsten Symptome von Multipler Sklerose – immer mehr ins Zentrum. Diese sind mindestens genauso wichtig wie die Sensorik und Motorik. Denn sie schränken Patientinnen und Patienten mit Multipler Sklerose im Alltag deutlich ein und reduzieren ihre Lebensqualität.»
Hier setzt die Studie von Helly Hammer an. Welche Rolle die Sprache bei der Diagnose von Multipler Sklerose sowie im Verlauf der Krankheit spielen kann, erklärt Helly Hammer gleich selbst im Interview.
Dr. Hammer, was war das Ziel Ihrer Studie?
Das Ziel der Studie war, eine Stimmsignatur zu identifizieren, anhand welcher zwischen MS-Patientinnen und -Patienten mit und ohne Fatigue, aber auch zwischen Patientinnen und Patienten mit und ohne Depression oder kognitiver Beeinträchtigung unterschieden werden kann. Diese Sprachsignatur nennt man Sprachbiomarker oder stimmliche Biomarker. Damit werden spezifische Merkmale oder Eigenschaften der Stimme einzelner Personen bezeichnet, die bei einer Erkrankung als Verlaufsparameter oder für die Diagnose verwendet werden können.
Inwieweit können diese Sprachbiomarker bei der Diagnose von Multipler Sklerose sowie für die Überwachung des Krankheitsverlaufs hilfreich sein?
Sprachbiomarker könnten eine wertvolle Rolle dabei spielen, die Entwicklung von Multipler Sklerose über einen längeren Zeitraum hinweg zu verfolgen und ein mögliches Fortschreiten der Erkrankung frühzeitig zu identifizieren. Dies ist besonders bei den nicht-motorischen Symptomen relevant, deren Verschlechterung oft schwer zu erkennen ist. Daher sehe ich vor allem in diesem Bereich ein grosses Potenzial.
Ich glaube zwar nicht, dass wir nur anhand der Stimme eine Multiple Sklerose diagnostizieren können. Ich denke aber, dass die Stimme bei der Diagnose unterstützen kann. Gerade bei Patientinnen und Patienten, deren MRT-Befunde auf MS hindeuten, die jedoch die diagnostischen Kriterien noch nicht vollständig erfüllen, könnte die Analyse der Stimme zur Früherkennung beitragen. Aufgrund des sehr individuellen und vielfältigen Erscheinungsbildes von MS wird jedoch das Zusammenspiel verschiedener diagnostischer Methoden auch weiterhin notwendig sein.
Was hat die Studie ergeben?
Wir konnten tatsächlich Sprachbiomarker identifizieren, die nur für Fatigue oder nur für Depression positiv waren. Das heisst, wir fanden spezifische Charakteristika der Stimme, die darauf hinweisen, dass eine Person an Fatigue oder an einer Depression leidet.
Wie sind Sie bei der Studie vorgegangen?
Alle MS-Patientinnen und -Patienten, die für die Studie in Frage kamen, wurden während der klinischen Routineuntersuchung angefragt. Von jenen, die teilnahmen, wurde eine circa 25-minütige Sprachaufnahme gemacht. Die Daten wurden schliesslich mithilfe von künstlicher Intelligenz analysiert und darin Biomarker identifiziert.
Wie sind Sie zu dieser Forschungsfrage gekommen?
Im Umgang mit Multipler Sklerose gibt es verschiedene Herausforderungen. Eine davon ist, ein subtiles, schleichendes Fortschreiten der Krankheit zu erkennen. Gerade wenn die zerebrale Bildgebung (z. B. MRT-Aufnahmen) stabil bleibt, ist das nicht immer einfach. Die Untersuchungen, welche ein- oder zweimal im Jahr durchgeführt werden, können immer auch von vorübergehenden Verschlechterungen bestehender Symptome beeinflusst werden. Diese können durch äussere Bedingungen oder die persönliche Verfassung der Patientinnen und Patienten an diesem Tag ausgelöst werden. Gleich verhält es sich bei den Fragebögen, die zur Erfragung von Symptomen wie Fatigue oder Depression eingesetzt werden. Daher kam die Idee mit der Stimme. Diese ist leicht zugänglich und ermöglicht uns, innerhalb kürzester Zeit sehr viele Daten zu erfassen. Die Analyse dieser Daten erlaubt uns einen Einblick in den Verlauf der Erkrankung und ermöglicht uns damit unter Umständen, das Fortschreiten der Krankheit früh zu erkennen und gegebenenfalls therapeutisch einzugreifen. Das ist insbesondere bei Patientinnen und Patienten sehr wertvoll, die kaum bis keine Symptome haben. In dieser Studie wurden genau diese Personen untersucht, was sie in meinen Augen so interessant macht.
Zur Person
Dr. med. Helly Hammer ist Oberärztin und Leiterin der Tagesklinik Neuro an der Universitätsklinik für Neurologie des Inselspitals. Sie hat ihre neurologische Facharztausbildung fast ausschliesslich am Inselspital absolviert. Am Ende ihrer Assistenzzeit hat sie sich für ein neuroimmunologisches Fellowship unter der Leitung von Prof. Dr. med. Andrew Chan entschieden, wo sie seither tätig ist. Als Forscherin ist es ihr ein Anliegen, klinisch relevante Forschungsfragen zu identifizieren und in Forschungsprojekten umzusetzen. Hierfür wird sie durch die neuroimmunologische Studienambulanz unter der Leitung von PD Dr. med. R. Hoepner und MSc ETH Lea Weber unterstützt.