Maschinen aus

Sie ist wohl eine der schwierigsten Entscheidungen, vor der Angehörige und Spital-Teams stehen können: Sollen lebenserhaltende Massnahmen ausgesetzt werden? Zwei Mitarbeiter auf der Intensivstation des Spitals Tiefenau erklären, wie sich solche Entscheidungsprozesse gestalten und was das sowohl mit ihnen als auch mit den Angehörigen macht.

Wann ist es indiziert, lebenserhaltende Massnahmen auszusetzen?
Wir behandeln unter anderem Patientinnen und Patienten, die einen Herzstillstand erlitten haben. Kardiologisch gesehen kann man ihr Herz mit einem Stent retten. Im Zuge der Reanimationsmassnahmen hat der Kortex, also die Hirnrinde, jedoch oft einen irreversiblen Schaden genommen. Ich lege grossen Wert auf die Autonomie, also darauf, ob der Mensch sich noch selber versorgen kann. Im Falle einer Postanoxischen Enzephalopathie werden die Patientinnen und Patienten kein autonomes Leben mehr führen können. Dann sehen wir auf der Intensivstation weniger Sinn und sprechen mit den Angehörigen, um eine ethische Entscheidung zu treffen.

In TV-Serien drückt man einen Knopf, und die Maschinen sind aus. Wie läuft das wirklich ab?
Wir geben mehr als 21 Prozent Sauerstoff – bis 100 Prozent. Zusätzlich erzeugen unsere Maschinen einen Druck am Ende der Ausatmung, damit die Lungenbläschen offenbleiben und der Sauerstoff ins Blut gelangen kann. Das Gerät merkt, wenn der Druck in den Atemwegen negativ wird und eine Einatmung begonnen hat. Wenn wir damit aufhören, gehen wir mit dem Sauerstoff auf unter 21 Prozent, die Druckunterstützung senken wir allmählich von zehn auf null. Die Patientinnen und Patienten haben dadurch immer mehr Mühe einzuatmen. Man kann aber nicht sagen, wann der Tod eintritt. Zwischen einer Viertelstunde und einer ganzen Nacht haben wir schon alles erlebt. TV-Serien zeichnen ein falsches Bild dieses Prozesses.

«Schlussendlich treffen immer die Angehörigen die Entscheidung.»

Wer entscheidet final, ob die Maschinen ausgeschaltet werden sollen?
Schlussendlich treffen immer die Angehörigen die Entscheidung – unabhängig jeglicher Indikation. Wir sind immer in der Position, uns nach dem Patientenwillen zu richten. Wenn dieser nicht klar definiert ist, kommt man als Team zusammen und wägt die Aussichten auf einen therapeutischen Erfolg ab. Manche Familien machen Gott zum Entscheidungsträger, andere lassen die medizinischen Fakten für sich sprechen. In Phasen der Unsicherheit ist der Verlauf der Krankheit immer eine gute Entscheidungshilfe: Die Zeit gibt die Antwort. Wenn sich eine Familie partout gegen den Therapieabbruch wehrt, suchen wir eine Anschlusslösung – beispielsweise eine Pflegeheimbehandlung.

Wie werden die Angehörigen in ihrer Entscheidungsfindung unterstützt?
Wir klären sie in offenen Gesprächen auf. Dabei kommunizieren wir sehr transparent und ehrlich. Während der Pandemie beispielsweise haben wir den Angehörigen vielfach CT-Bilder der Lungen gezeigt. Sie verstanden das jeweils sehr gut und entschieden sich dann eher dazu, die Therapie abzubrechen. Seit März 2020 hatte ich keinen Fall von Covid-19-Patientinnen und -Patienten, in dem die Familie unbedingt wollte, dass über Wochen hinweg beatmet werden sollte. Wir haben auch Patientinnen und Patienten mit schwerer Polyneuropathie betreut, die sich aufgrund von Muskelschwäche kaum mehr bewegen konnten und deswegen sehr depressiv waren. Diese konnten wir teilweise zum Durchhalten motivieren, wobei im Verlauf erfreulicherweise ein Rückgang der Polyneuropathie erreicht werden konnte.


Was macht das alles mit einem nahestehenden Menschen?
Die Angehörigen sind meist Ehefrauen oder -männer, Mütter, Väter oder Kinder. Sie sind angesichts des nahenden Ablebens schockiert und tieftraurig. In Bezug auf die Entscheidungsfindung reagieren sie emotional. Angehörige sollten nie alleine entscheiden, inwieweit eine Therapie fortgeführt werden sollte. Hier unterstützen wir sie, damit sie eine vernünftige Entscheidung treffen können. Das ist manchmal schwierig, aber in der Regel sehen sie ein, dass eine Therapie keinen Erfolg mehr verspricht.

Ist diese Entscheidung «nur» belastend oder kann sie sogar befreiend wirken?
Sie ist definitiv nicht nur belastend. Vor allem wenn die Entscheidung nach dem Willen der Patientinnen und Patienten getroffen wird. Ein Therapieabbruch ist meistens keine leichte Entscheidung, aber – so nehmen wir das wahr – eine befreiende. Manchmal sieht man wochenlang ein und denselben Patienten, der nicht auf die Therapie anspricht. Im Gespräch mit der Familie wird dann häufig klar, dass nicht im Sinne dieses Patienten gehandelt wird. Dann ist es eine gute und befreiende Entscheidung.

Und die letzten Wünsche der Patientinnen und Patienten?
Es kommt darauf an, was sie noch zu tun im Stande sind, nachdem man die Entscheidung getroffen hat. Bei einer beatmeten Patientin mit einem hochmalignen und inoperablen Tumor ver-folgen wir das Ziel, sie wach werden zu lassen. So können wir ihr die Möglichkeit geben, auf eine Palliative-Care-Station zu wechseln oder nach Hause oder an den See zu fahren, um ein letztes Mal den Sonnenuntergang zu geniessen.

Bestimmt erlebst du ergreifende, existenzielle Momente.
Das emotionalste Erlebnis war nicht die Entscheidungsfindung einer Familie, sondern die direkte Konfrontation mit deren Schicksal. Wir wurden gefragt, ob wir ein Bett für einen sterbenden fünfjährigen Jungen hätten. Der Vater hatte im Garten eine Mauer gesetzt – bestehend aus grossen Bruchsteinen. Der Junge hielt sich unterhalb der Mauer auf, als ein Stein seinen Thorax und seinen Bauch zertrümmerte. Ich war total überfordert mit dieser Situation, immerhin ging an diesem Bett eine junge Familie kaputt. Der Vater hatte wahnsinnige Schuldgefühle. Eine solche Geschichte möchte ich nicht noch einmal erleben.

Hast du selber Angst vor dem Tod?
Wenn jemand sagt, er habe keine Angst vor dem Tod, belügt er sich meines Erachtens selbst. Ich bin kein religiöser Mensch, aber natürlich habe ich eine gewisse Angst. Die grössere Angst habe ich allerdings vor der Art und Weise, wie ich sterben werde. Ich wünsche mir zu diesem Zeitpunkt einfühlsame Menschen um mich herum, die meine Entscheidungen akzeptieren und mich gut durch diese letzte Lebensphase begleiten.