Eine kurze Geschichte des Willens
Jeder Mensch geht mit Schicksalsschlägen anders um. Manche resignieren, andere stellen sich ihnen kämpferisch in den Weg. Zu Letzteren gehört Carmen Bähler, Medizinische Sekretärin am UCI – Das Tumorzentrum Bern. Trotz unverhoffter Umstände und einer Schockdiagnose wurde sie Europameisterin im Triathlon. Das ist ihre Geschichte.
Kapitel 1
Die Initialzündung
Ihr allererstes Velorennen gewinnt die junge Carmen Bähler auf Anhieb, obschon sie das zu grosse Bike ihres Vaters benutzt: «Ich war irgendwie ein Naturtalent und konnte immer beissen», blickt die heute 50-Jährige auf ihre Anfänge zurück. Carmens Biss und ihr unbändiger Wille sind zwei der Eigenschaften, die sie zu der selbstbewussten Frau haben werden lassen, die sie heute ist. Ihr Leben ist ein Sinnbild des Schicksals – und des kämpferischen Umgangs mit diesem. «Wie im Triathlon lautet meine Devise für das Leben: ‹Eifach seckle!›». 1999 kommt Tochter Janina zur Welt. Im Jahr darauf läuft die Thunerin ihren ersten Grand Prix (GP) von Bern. Kaum hat sie die Ziellinie unter dem tosenden Applaus der schaulustigen Bernerinnen und Berner überquert, stellt Carmen verwundert fest: «Ich hatte das Gefühl, ich könne die ganze Strecke noch einmal laufen.» Es war die Initialzündung: «Auf einmal hatte ich Ambitionen.»
Kapitel 2
Aus zwei mach drei
2003 verkünden Carmen und ihr Mann Beat der Familie und im Freundeskreis voller Stolz eine Zwillingsschwangerschaft mit Mädchen. «Die Schwangerschaft verlief normal, die Ultraschalls zeigten stets zwei gesunde Föten.» Etwas macht Carmen jedoch stutzig: ihr extrem grosser Bauch. «Sicherheitshalber hatten wir uns auch noch Jungennamen überlegt, denn wissen kann man nie.» Damit sollte das Ehepaar Bähler recht behalten. Das erste Kind, das Carmen zur Welt bringt, ist Sascha. Nach Kind Nummer zwei, Dania, hält der zuständige Arzt Ausschau nach der Plazenta – und bringt auf einmal ein drittes Kind hervor, Tochter Mara. Richtig realisiert habe sie das nicht, rekapituliert Carmen heute: «Ich war wie im Film. Wirklich gekümmert hat es mich aber nicht. Mir war wichtig, dass alle gesund sind.» Dann hätten sie jetzt eben ein Kind mehr, umso besser, meint Carmen schmunzelnd in ihrer gewohnt positiven Art. Die Bählers haben alles für Zwillinge eingerichtet, nun gilt es, erfinderisch zu werden. Um die Haushaltskasse aufzubessern, gibt Carmen nebenbei Aerobic-Stunden: «Die Kosten hatten sich natürlich verdreifacht. Wir sind immer den neusten Aktionen für Windeln hinterhergerannt.» Und rennen kann Carmen hervorragend.
Kapitel 3
Der Achtungserfolg
Acht Monate nach der Drillingsgeburt läuft Carmen ihren nächsten GP. «Der Sport war ein absolut notwendiger Ausgleich zum fordernden Alltag mit vier Kindern.» Viel trainiert habe sie jedoch nicht, denn im Hause Bähler gilt stets das Motto «Family first». Vielmehr kombiniert Carmen den Familienalltag mit dem Sport: «Ich habe die Kids hinten und vorne aufs Velo gepackt und so den Wocheneinkauf erledigt. Da musste ich ähnlich beissen wie später im Triathlon.» Den ersten bestreitet Carmen 2012. Im Ziel schwört sie sich im Gegensatz zum so souverän gemeisterten GP von 2000, nie wieder einen Triathlon zu absolvieren. «Das war schon eine andere Herausforderung», gibt sie unumwunden zu. Doch aufgeben? Fehlanzeige. Zwei Wochen später geht die gelernte Pharmaassistentin im Spiezathlon an den Start – über die olympische Distanz notabene. «Das Schwimmen war nie meins. Ich wusste, dass ich auf dem Velo und beim Laufen ‹Guzzi› geben kann.» Wenige Meter vor dem Ziel überholt sie Jolanda Annen, wird Dritte und nimmt die Gratulation der späteren Olympionikin per Handschlag entgegen.
Kapitel 4
Wi(e)der das Schicksal
Ein heisser Sommertag in Zürich. Carmen muss den Ironman als führende Frau ihrer Altersklasse aufgeben. «Meine mentale Verfassung hatte sich verändert. Dazu gesellten sich Schwindelattacken, Ohrenschmerzen und ein komisches Gefühl in der linken Gesichtshälfte.» Was bevorsteht, ist eine diagnostische Odyssee: «Ich habe viele Sprechstunden besucht, doch niemand kam hinter des Rätsels Lösung.» Bis im Oktober 2013 die Diagnose Akustikusneurinom gestellt wird, ein Gehirntumor, der das Gehör durch Druck auf die Nerven beeinträchtigt. «Ich war wieder wie im Film. Mein erster Gedanke galt meinen Kindern.» Die Diagnose teilt Carmens Leben in ein Vorher und ein Nachher. Der Tumor habe sie gebremst – ausgerechnet sie, die sprichwörtlich immer auf der Überholspur unterwegs gewesen sei. Am 20. November 2013 wird er in einer sechsstündigen Operation im Inselspital entfernt. Heute schätze sie die kleinen Dinge im Leben mehr und sei dankbarer für das, was sie ihr Eigen nennen dürfe. Aber sie wendet ein: «Seit der Operation höre ich nichts mehr auf dem linken Ohr und habe einen Tinnitus. Zudem war meine ganze sportliche Leistungsfähigkeit weg.» Doch aufgeben? Ausgeschlossen. Carmen wäre nicht Carmen, würde sie ihr Schicksal einfach so hinnehmen.
«Aufgeben ist für mich nie eine Option.
Wenn ich am Boden bin, stehe ich wieder auf und richte meine Krone neu.»
Nach sechs Monaten Aufbautraining absolviert sie ihren ersten Triathlon im neuen Lebensabschnitt – und steht auf dem Podest. «Mich dünkt, im Velofahren wurde ich sogar stärker als vorher.» Einschränkungen beim Sport erlebe sie seither vor allem bei heissen Temperaturen, die sie nun weniger gut vertrage. Allen Widrigkeiten zum Trotz folgt am 26. Juli 2014 in Zürich der grosse Coup: Acht Monate nach dem Eingriff wird sie Europameisterin auf der olympischen Distanz. Damit nicht genug: 2019 belegt sie den vierten Rang in der Weltmeisterschaft in Lausanne. Im Ziel ist sie aber fuchsteufelswild und regt sich fürchterlich auf, weil sie zu früh in die Wechselzone gefahren ist. Doch Carmen «rehabilitiert» sich noch im selben Jahr für den Fauxpas: Mit 46 Jahren stellt sie in Nyon einen bis heute gültigen Streckenrekord auf Sprintdistanz auf. Sportliche Ziele verfolgt Carmen heute nicht mehr, vielmehr möchte sie sich trotz ihrer postoperativen Konzentrationsschwäche zur zertifizierten Tumordokumentarin weiterbilden lassen. «Aufgeben ist für mich nie eine Option. Wenn ich am Boden bin, stehe ich wieder auf und richte meine Krone neu.» Das beschreibt das Leben der Carmen Bähler am besten. Es ist die Geschichte einer Kämpferin, die mit ihrer Willenskraft aus allen Lebenslagen das Maximum herausholt.