Wir wollten einen eigenen Trend initiieren
Seit Sommer 2022 hält ein Kulturwandel Einzug in die Universitätsklinik für Infektiologie des Inselspitals Bern: Sie plant bei der Assistenzärzteschaft neu mit Arbeitspensen von 80 Prozent. Wir haben eine Bestandsaufnahme gemacht und nachgefragt, wie es sich mit diesem progressiven Ansatz lebt.
Ist ein Pensum von 80 Prozent Gesetz oder dürfte ich als Assistenzarzt auch 100 Prozent arbeiten?
CT: Bei uns darf man auch 100 Prozent arbeiten. Die verbleibenden 20 Prozent würden in diesem Fall nicht für klinische Aufgaben genutzt, sondern beispielsweise für Forschungsprojekte eingesetzt.
Wie ist die Idee entstanden?
LB: Wir Assistenzärztinnen und -ärzte hatten grosses Interesse an einer flexiblen Arbeitszeitlösung, zumal 50-Stunden- Wochen stark an den persönlichen Energiereserven zehren. Viele von uns haben Familie und damit einen Bedarf an Teilzeitarbeit. Deshalb wurden wir bei der Klinikleitung mit unserer Idee vorstellig – und sind dort auf offene Ohren gestossen. Wir wurden aktiv in den Erarbeitungsprozess eingebunden und haben nach Lösungen, aber auch nach Kompromissen gesucht.
CT: Unsere Klinik gliedert sich in drei Bereiche: die Poliklinik, die Spitalhygiene und den Konsiliardienst. Letzterer gilt als der «strengste» Einsatz während der Ausbildungszeit der Assistenzärzteschaft. Vier Assistenzärztinnen und -ärzte, die im Begriff waren, in den Konsiliardienst zu rotieren, erzählten mir von ihrer Idee. Viele Mitarbeitende hatten sich schon in der Vergangenheit eine Reduktion ihres Arbeitspensums gewünscht – beispielsweise aufgrund familiärer Verpflichtungen. Statt Trends nachzulaufen, wollten wir einen eigenen initiieren.
Welche Ziele werden mit dem Modell konkret verfolgt?
CT: Wir wollen auf die Herausforderungen der «Generationen-Challenge» eingehen. Die heutige Generation von Assistenzärztinnen und -ärzten hat ganz andere Bedürfnisse als wir damals. Es ist uns ein Anliegen, dass unsere Mitarbeitenden zufrieden sind – da gehört eine bessere Vereinbarkeit von Freizeit, Familie und Beruf dazu. Dieser Anspruch wird von der heutigen Generation zurecht artikuliert.
Mit welchen Herausforderungen saht ihr euch konfrontiert?
LB: Es braucht eine vorausschauende Planung und konzeptionelle Vorarbeit. Einen Default von 80 Prozent über ein nicht funktionierendes System zu stülpen, würde nicht helfen. Vielmehr braucht es zusätzliche Gedankenenergie, um die Abläufe und Prozesse anzupassen – insbesondere im stationären Bereich. Das rigide Festhalten am 100-Prozent-Modell, das in vielen Spitälern noch gelebt wird, rührt häufig daher, dass man sich keine Gedanken über Alternativen macht.
CT: Die grösste Herausforderung besteht darin, dass wir eine vergleichsweise kleine Klinik sind. Früher hatten wir drei Mitarbeitende im Konsiliardienst zu je 100 Prozent, heute haben wir durch die interne Umstrukturierung vier à 80 Prozent, was einem Stellenplus von 20 Prozent entspricht. Nun sind es aber vier Mitarbeitende, die in die Ferien gehen. Die Ferienvertretungen beziehen wir aus der Spitalhygiene oder der Poliklinik. Das ist eine Zusatzbelastung. Und letztlich verlängert sich die Ausbildungszeit. Aber auch das ist ein Generationenphänomen: Heutzutage ist das weniger ein Thema oder Hinderungsgrund.
Du hast bis anhin Vollzeit gearbeitet. Wie sind die ersten Erfahrungen mit dem neuen Modell?
LB: Ich kann meinen Weg autonomer und flexibler nach eigenen Vorstellungen gestalten – sei dies in Bezug auf die Forschung, private Verpflichtungen, die Fortbildung oder die klinische Tätigkeit. Alles ist weniger rigide. Durch den fixen freien Tag gewinne ich an Lebensqualität, bin ausgeglichener und habe mehr Kapazitäten, um Belastungsspitzen abzufedern: ob im Beruf, wenn ich mal einspringen muss, im sozialen Umfeld, wenn es dort brennt, oder bei Projektdeadlines im Forschungsbereich. Der Arztberuf per se ist eine sensible Funktion. Es gibt seit Jahrzehnten Forschungsergebnisse aus verschiedenen Berufsfeldern, die dafürsprechen, dass durch verringerte Arbeitspensen weniger Fehler passieren und die Produktivität steigt oder mindestens gleich bleibt. Das ist ein Gewinn für alle.
Bestimmt gibt es auch kritische Stimmen.
CT: Das Kaderteam gehört einer Generation an, die vornehmlich 100 Prozent gearbeitet hat und natürlich kritischer ist, aber dieses Modell tatkräftig mitträgt. Wir wurden anders sozialisiert und geprägt: Dass man als gute Assistenzärztin neben dem Patientenbett schlafen muss, ist ein veralteter Gedanke. Der Zahn der Zeit nagt glücklicherweise an solchen Vorstellungen: Wir haben heute mehr Frauen, die in der Medizin tätig sind, und diese planen Familie anders. Auch gibt es mehr Männer, die in der Familienbetreuung aktiver sind. Wir wollen mit diesem Kulturwandel Schritt halten.
Sind andere Kliniken bereits auf dieses Modell aufmerksam geworden?
LB: Unser Modell hat sich innerhalb der Schweizer Infektiologie- «Szene» rasant umhergesprochen. Auch in den anderen Universitätsspitälern weckt unser 80-Prozent-Default Interesse. Wenn man gute und motivierte Mitarbeitende will, sind solche Aspekte enorm wichtig.
Wie sieht die Zukunft aus?
CT: Im Moment verfestigen und konsolidieren wir das Erarbeitete. Besonders im Hinblick auf die Ferienvertretungen. Es ist ein iterativer, also stetiger Lernprozess: Wo besteht Optimierungspotenzial? Welche Bedürfnisse gibt es noch – auch auf anderen Hierarchiestufen? Die neuen Bedürfnisse der jüngeren Generation halten uns jung (lacht).
