Ein kleiner Kämpfer mit unbändigem Lebenswillen
Jorin ist heute viereinhalb Jahre alt, besucht zweimal wöchentlich die Spielgruppe, spielt Unihockey und fährt Fahrrad. Bei seiner Geburt war er nur 30 cm gross und 590 Gramm schwer und konnte nicht selbstständig atmen.
Text: Tamara Zehnder
Wer Jorin heute mit seinem Miniatur-Skateboard neben seiner Mama stehen sieht, erlebt einen eher schmächtigen, aber durchaus selbstbewussten Buben mit Schalk in den Augen. Dass er nicht sprechen kann, bemerkt man beim Viereinhalbjährigen nicht sofort. Die lebensnotwendige Öffnung in seiner Luftröhre ist unter einem Lätzchen verborgen. «Die Leute reagieren viel neutraler auf ihn, wenn sie das Tracheostoma nicht als erstes sehen», erklärt seine Mutter Lea. Im Februar 2021 kam Jorin in der 24. Schwangerschaftswoche per Notkaiserschnitt zur Welt: Er wog 590 Gramm und war 30 cm gross. «In diesem Moment war er das schönste Kind der Welt für uns: Es war alles an ihm dran», sagt Lea. «Er war einfach viel zu klein und zu dünn. Erst rückblickend nehmen wir auf den Fotos wahr, wie krank er wirklich war.» Als extremes Frühchen sei er mit seiner Ausgangslage quasi chancenlos gewesen. «Jorin lebt nur dank dem Team der Neonatologie.»
Beatmung von der ersten Minute an
«Der starke Charakter und der Lebenswille waren – wie bei allen Neugeborenen – vom ersten Moment spürbar», erinnert sich Pflegefachfrau Karin Götz, die Jorin seit seinem ersten Tag kennt. Seine Lunge war aber so schwach ausgereift, dass er von der ersten Minute an auf invasive Beatmung angewiesen war, bei der ein Schlauch über die Nase in die Luftröhre geführt wird. Nach einer Woche mussten die Ärzte gar auf Hochfrequenzbeatmung (HFOV) umstellen. Dabei werden sehr kleine Atemzugvolumina mit sehr hoher Frequenz verabreicht, um den Gasaustausch schonend sicherzustellen. Die Eltern pendelten in dieser Zeit täglich in die Neonatologie im Theodor-Kocher-Haus, um bei Jorin zu sein: Lea ab Mittag für 8 bis 10 Stunden und Papa Stefan nach seinem 9-stündigen Arbeitstag für die Abendroutine. Weil Jorin während der Corona-Pandemie auf die Welt kam, war das Ehepaar drei Monate lang komplett isoliert mit ihrem schwerkranken Kind. Erst Mitte April, als Jorin alle Standard-Impfungen erhalten hatte, durften die Grosseltern sowie Gotti und Götti ihn erstmals besuchen. Als Jorin einen Monat alt und 840 Gramm schwer war, schloss ein Herzchirurg des Insel-Teams bei ihm die Verbindung zwischen Lungen- und Körperkreislauf, den Ductus arteriosus, der sich normalerweise nach der Geburt automatisch verschliesst. Die Hoffnung, dass Jorin danach nicht mehr invasiv beatmet werden müsste, zerschlug sich bereits einen halben Tag später. Sein Zustand war lange Zeit so kritisch, dass seine Eltern mehrfach von ihm Abschied nehmen mussten. Alle edizinischen Möglichkeiten waren ausgeschöpft, die Situation schien aussichtslos. Doch jedes Mal bündelte Jorin all seine Kräfte: «Er zeigte uns immer wieder, dass er leben will», sagt seine Mutter.
Auch fast sechs Monate nach seiner Geburt wurde Jorin noch immer mit hohen Beatmungsdrücken über den Schlauch in der Nase beatmet. Nach intensiven Diskussionen und unter Berücksichtigung vergleichbarer Fälle aus den USA entschieden sich die Eltern gemeinsam mit dem behandelnden Ärzteteam für einen Luftröhrenschnitt, ein Tracheostoma. Dies um Jorin eine normale Entwicklung zu ermöglichen: Er sollte endlich sein Gesicht mit den Händen erforschen dürfen sowie essen und trinken lernen. Der Eingriff, bis dahin in der Schweiz noch nie bei einem Frühgeborenen in diesem Zustand durchgeführt, gelang den Kinderchirurgen. Damit öffnete sich die Perspektive, dass Jorin bald mit seiner Familie nach Hause gehen konnte. Zwei Monate danach lernte Jorin, trotz Beatmung selbstständig zu essen, sodass ein Jahr später die Ernährung über die Sonde eingestellt werden konnte.
Endlich nach Hause
Am 16. Dezember 2021, 10 Monate und 9 Tage nach seiner Geburt, hatte sich Jorins Zustand so weit stabilisiert, dass er endlich mit seiner Familie nach Hause durfte. Dass dies trotz invasiver Beatmung möglich war, verdankt er dem grossen Engagement seines Ärzteteams. Oberarzt Olaf Ahrens erarbeitete für die Familie ein umfassendes individuelles Beatmungskonzept. Die Eltern wurden von ihm intensiv geschult, absolvierten eine Reanimationsausbildung und waren ständig bereit, um auf unvorhersehbare Situationen zu reagieren. Dennoch wurden sie von Angst und Sorgen geplagt: «Ist Jorin bei uns sicher? Schaffen wir es, ein beatmetes Kind zu betreuen?», fragten sich Lea und Stefan.
Rund um die Uhr überwacht
Jorin durfte zu keinem Zeitpunkt allein gelassen werden. Die Eltern statteten das ganze Haus mit Kameras aus und nahmen den Sättigungsmonitor auf Schritt und Tritt mit. Seine behandelnde Kinderpneumologin Carmen Casaulta steht ihnen seit dem Austritt aus der Kinderklinik jederzeit auf Abruf zur Verfügung. «Dass ich rund um die Uhr für sie erreichbar bin, ist so nicht vorgesehen, aber ich weiss nicht, wie man das anders lösen könnte.»
Um den enormen Betreuungsaufwand stemmen zu können, organisierte die Familie Pflegepersonal, das Jorin in allen Nächten überwachte. «Dass wir jede Nacht durchschlafen konnten, hat uns damals gerettet», betont Lea. «Ich weiss nicht, wie andere Familien das heute machen. Die Spitex kann nur noch Nachtwachen für maximal drei Nächte pro Woche anbieten, mehr Kapazitäten hat sie nicht mehr.»
Rückblickend sind Lea und Stefan stolz darauf, wie sie damals die grosse Herausforderung gemeistert haben. Medizinische Zwischenfälle, die einen Aufenthalt in der Intensivstation der Kinderklinik nötig machten, gab es deutlich weniger als erwartet, weil Jorin Infekte erstaunlich gut wegsteckte. Zur Kontrolle musste er anfangs ein- bis zweimal wöchentlich ins Spital – mehr als 40 Mal in einem Jahr.
«In Fällen wie bei Jorin gehen alle Beteiligten mit ihren Ressourcen ans Limit und darüber hinaus. Solche Resultate motivieren uns immer wieder, diesen enormen Aufwand auf uns zu nehmen.»
PD Dr. Carmen Casaulta, Leitende Ärztin pädiatrische Pneumologie und Allergologie in der Kinderklinik des Inselspitals
Verzicht auf maschinelle Beatmung
Erst im Verlauf des zweiten Lebensjahres konnte bei Jorin die maschinelle Beatmung eingestellt werden. Seither benötigt er «nur» noch Sauerstoff. Zuerst rund um die Uhr, später nur noch in der Nacht. «Im Wissen darum, dass er bei einem Infekt auf der Intensivstation behandelt werden muss, haben wir die Maschinen zurückgegeben» sagt Lea. «Es war Zeit, Jorins Lunge zu vertrauen.» Im Herbst 2022 konnte die Mutter endlich ihr Versprechen einlösen: «Wenn alles überstanden ist, fahren wir ans Meer und bleiben am Strand sitzen, bis sich der Himmel rosa färbt.» Trotz seiner chronischen Lungenkrankheit fährt Jorin heute Fahrrad und treibt Schabernack wie jedes andere Kind in seinem Alter. Im Umgang mit seiner Krankheit verhält er sich sehr kooperativ. Er meldet sich, wenn man Atemwegssekret absaugen muss, und hilft beim Wechsel der Kanüle – eine Prozedur, die bei anderen Kindern auf grossen Widerstand stösst. «Er verstand früh, wie wichtig das Tracheostoma für sein Überleben ist», sagen seine Eltern.
Infolge der Beatmung wurde Jorins Kehlkopf stark in Mitleidenschaft gezogen. «Die Natur hat nicht vorgesehen, dass man über Monate einen Schlauch in der Luftröhre liegen hat», erklärt Carmen Casaulta. Für die Reparatur waren mehrere Eingriffe mit insgesamt sieben Narkosen nötig – jede davon hochkomplex und heikel, weil jeder Eingriff in Jorins individuelles Atmungssystem zu einer massiven Verschlechterung führen kann. Sobald Jorin schläft und seine Atmung nicht aktiv steuern kann, kollabiert seine Luftröhre. Darum sind die Versuche, das Tracheostoma zu entfernen, bisher gescheitert. Die Eltern hoffen, dass er diesen Meilenstein bis zum nächsten Sommer erreichen kann und dann sprechen lernt. Bereits jetzt kommuniziert er mit Gebärdensprache und anhand von Piktogrammen auf dem Sprechcomputer mit seiner Umwelt. Aktuell besucht Jorin zweimal wöchentlich eine Spielgruppe, begleitet von einer Pflegefachperson der Spitex, die in einem Nebenraum für Notfälle bereitsteht. In den Kindergarten wollten ihn die Eltern noch nicht schicken, obwohl er intellektuell dazu bereit wäre. Er soll die Zeit haben, noch grösser und stärker zu werden. Auf die Nachtwache der Spitex ist die Familie inzwischen nicht mehr angewiesen. Die zwei Fachpersonen, die den lebhaften Buben betreuen, während Mama arbeitet, sind eng mit der Familie befreundet. An Pfingsten 2025 übernachtete er zum ersten Mal auswärts. Dieses Stück Freiheit haben Jorin und seine Eltern sehr genossen.
