Eine Unterzuckerung, medizinisch Hypoglykämie genannt, gehört zu den häufigsten und gefährlichsten akuten Komplikationen bei Diabetes. Sie kann innerhalb weniger Minuten zu Schwindel, Verwirrtheit, Bewusstlosigkeit oder gar lebensbedrohlichen Situationen führen. Trotz moderner Glukosesensoren ist es oft schwierig, eine drohende Unterzuckerung rechtzeitig zu erkennen. Zugleich gilt die menschliche Stimme als sensibler Spiegel des Körpers: Sie verändert sich, wenn wir müde, gestresst oder krank sind; und wie sich nun zeigt, auch wenn der Blutzucker fällt.
Die Stimme als Warnsignal
Forschende des Inselspitals, Universitätsspital Bern und der Universität Bern haben gemeinsam mit internationalen Partnern erstmals gezeigt, dass sich Hypoglykämien anhand charakteristischer Veränderungen der Stimme zuverlässig erkennen lassen. Dazu reichten Sprachaufnahmen über ein handelsübliches Smartphone-Mikrofon aus, die anschliessend mit einem Algorithmus für maschinelles Lernen ausgewertet wurden.
Insgesamt nahmen 22 Personen mit Typ-1-Diabetes an zwei klinischen Studien teil. Unter streng kontrollierten Bedingungen wurde der Blutzucker der Teilnehmenden zunächst auf einen normalen Wert eingestellt und anschliessend gezielt gesenkt, um eine Unterzuckerung herbeizuführen. Während dieser beiden Phasen sprachen die Teilnehmenden in einem ruhigen Raum in ein gewöhnliches Smartphone-Mikrofon. Sie lasen Texte laut vor, hielten Vokale, beschrieben Bilder oder wiederholten Silbenfolgen in schneller Folge. So entstanden insgesamt 540 Sprachaufnahmen bei normalen oder zu tiefen Blutzuckerwerten.
Anschliessend werteten die Forschenden die Tonaufnahmen mit einem Algorithmus für maschinelles Lernen aus. Dabei analysierte die KI feine Unterschiede in der Stimme wie Tonhöhe, Lautstärke, Resonanz, Klarheit und Klangdynamik. Auf dieser Basis konnte sie Unterzuckerungen sehr zuverlässig erkennen. Die besten Ergebnisse erzielte die KI beim lauten Vorlesen, wo sie Unterzuckerungen in rund 90 Prozent der Fälle korrekt erkannte. Bei der Wiederholung kurzer Silben lag die Genauigkeit bei etwa 87 Prozent.
Einfache Technik mit grossem Potenzial
Die Studie belegt erstmals, dass Veränderungen in der Stimme ein akutes medizinisches Problem anzeigen können. «Unsere Ergebnisse machen deutlich, dass die Stimme wichtige Hinweise auf den Gesundheitszustand liefern kann», sagt Prof. Dr. med. Christoph Stettler, Chefarzt und Klinikdirektor der Universitätsklinik für Diabetologie, Endokrinologie, Ernährungsmedizin & Metabolismus (UDEM) am Inselspital und Letztautor der Studie. «Mit einem gewöhnlichen Smartphone und künstlicher Intelligenz lässt sich eine Unterzuckerung frühzeitig und ganz ohne zusätzliche Geräte erkennen.»
Auch Dr. med. Dr. sc. nat. Vera Lehmann, Studienärztin und Erstautorin der Studie, unterstreicht die Bedeutung der Resultate: «Wir konnten zeigen, dass ein handelsübliches Smartphone ausreicht, um physiologische Veränderungen zu erfassen, die der Mensch manchmal selbst noch gar nicht wahrnimmt. Das eröffnet ganz neue Möglichkeiten, wie Technologie in Zukunft helfen kann, gefährliche Situationen zu vermeiden.»
Angesichts der weiten Verbreitung von Smartphones könnte dieser Ansatz die Erkennung und Vermeidung von Hypoglykämien weltweit verbessern, insbesondere in Regionen, in denen moderne Glukosesensoren nur begrenzt verfügbar sind. Die Forschenden betonen jedoch, dass die Methode bestehende Technologien ergänzen und nicht ersetzen soll.
Bern als Zentrum für innovative Diabetesforschung
Das Forschungsteam des Inselspitals und der Universität Bern gehört zu den weltweit führenden Gruppen im Bereich der KI-gestützten Diabetesforschung. Bereits in einer früheren Studie zeigte die Forschungsgruppe, dass auch das Fahrverhalten im Auto Hinweise auf Unterzuckerungen liefern kann. Mit der aktuellen Arbeit erweitern die Forschenden das Spektrum um eine neue Dimension: die Stimme als Biomarker für akute Stoffwechselentgleisungen.
Nächste Schritte in Richtung Alltagstauglichkeit
In weiteren Studien wollen die Forschenden nun prüfen, ob die Stimmanalyse auch in alltäglichen Sprachsituationen funktioniert, wie etwa beim Gebrauch von Sprachassistenten wie Siri oder Alexa. Wenn sich der Ansatz bewährt, könnten künftig einfache Sprachbefehle helfen, gefährliche Unterzuckerungen frühzeitig zu erkennen und so das Leben von Menschen mit Diabetes sicherer zu machen.
Link
Universitätsklinik für Diabetologie, Endokrinologie, Ernährungsmedizin und Metabolismus
Publikation
Lehmann V. et al. Listening to Hypoglycemia: Voice as a Biomarker for Detection of a Medical Emergency using Machine Learning. Diabetes Care 2025; dc251680. https://doi.org/10.2337/dc25-1680. Online ahead of print.
Expert:innen
Prof. Dr. med. Christoph Stettler, Chefarzt und Klinikdirektor, Universitätsklinik für Diabetologie, Endokrinologie, Ernährungsmedizin & Metabolismus (UDEM), Inselspital, Universitätsspital Bern, und Universität Bern
Dr. med. Dr. sc. nat. Vera Lehmann, Studienärztin, Universitätsklinik für Diabetologie, Endokrinologie, Ernährungsmedizin & Metabolismus (UDEM), Inselspital, Universitätsspital Bern, und Universität Bern
