Altersbedingte Makuladegeneration (AMD) ist die häufigste Ursache für den Verlust des Sehvermögens bei Menschen über 50 Jahren. Bis zu 12 Prozent der über 80-Jährigen sind von dieser chronischen Krankheit betroffen. Von einem retinalen Venenverschluss (RVO) – verursacht durch die Thrombose einer Netzhautvene – sind weltweit schätzungsweise 16,4 Millionen Erwachsene betroffen. Er ist nach der diabetischen Retinopathie (DR) die zweithäufigste Ursache für Erblindung durch retinale Gefässerkrankungen. DR wiederum ist die Hauptursache für Erblindung in Industrienationen und betrifft ca. vier von fünf Diabetikern nach 20 Jahren. In Folge einer DR kann es zu einem diabetischen Makulaödem (DME) mit teilweisem oder vollständigem Sehverlust kommen.
Alle drei Erkrankungen werden mit Injektionen eines sogenannten anti-vaskulären, endothelialen Wachstumsfaktors (Anti-VEGF) in das Auge in regelmässigen Abständen behandelt, um das Fortschreiten der Krankheit zu verlangsamen und eine Erblindung zu verhindern. Da mit dem Sehvermögen ein zentraler menschlicher Sinn gefährdet ist, wollen Patientinnen und Patienten sicher sein, dass sie oft genug behandelt werden, um eine schnelle Verschlechterung zu vermeiden. Und die Ärztinnen und Ärzte wollen sicherstellen, dass sie jeden Betroffenen häufig genug sehen, um keine wichtigen Veränderungen zu verpassen.
Die Herausforderung
Mit der Überalterung der Gesellschaft nehmen die Fälle von AMD, RVO oder DME weltweit zu, so dass es für spezialisierte Augenkliniken schwierig ist, mit der wachsenden Nachfrage nach regelmässigen Kontrolluntersuchungen Schritt zu halten. «Als Ärzte wollen wir allen Patienten die für sie notwendige Aufmerksamkeit und Behandlungshäufigkeit zukommen lassen», sagt Sebastian Wolf, Leiter der Augenklinik des Inselspitals, die derzeit jährlich knapp 6000 Behandlungen bei Patienten mit AMD, RVO und DR vornimmt. «Es ist eine organisatorische Herausforderung, allen Patientinnen und Patienten gerecht zu werden und in der kurzen Zeit alle relevanten Bildgebungsdaten zu erfassen, um den individuellen Krankheitsverlauf zu beurteilen und Behandlungsentscheide zu treffen.»
Um das Fortschreiten der chronischen Augenerkrankungen zu überwachen, wird in der Regel die optische Kohärenztomographie (OCT) eingesetzt, ein bildgebendes Verfahren, das 3D-Bilder des Auges mit extrem hoher Auflösung erzeugt. In Zusammenarbeit mit dem ARTORG Center for Biomedical Engineering Research der Universität Bern hat das Inselspital KI-basierte, automatisierte OCT-Analysesysteme entwickelt, die Augenärztinnen und -ärzte bei der Beurteilung eines ganzen Patienten-OCT-Satzes in wenigen Sekunden unterstützen können. Zusammen mit RetinAI, einem Startup, das sich auf KI-basierte Technologien für die Augenheilkunde spezialisiert hat, haben sie nun eine retrospektive Studie durchgeführt, um zu beurteilen, wie gut die KI den Anti-VEGF-Behandlungsbedarf von Anfang an vorhersagen kann.
Der Studienaufbau
Die Studie untersuchte OCT-Daten von 340 Patientinnen und Patienten mit AMD und 285 mit RVO oder DME, die zwischen 2014 und 2018 am Inselspital mit Anti-VEGF behandelt wurden. Basierend auf morphologischen Merkmalen, die automatisch aus den OCT-Volumina zu Beginn und nach zwei aufeinanderfolgenden Besuchen extrahiert wurden, sowie demografischen Informationen der Patientinnen und Patienten, wurden zwei KI-Modelle, die auf maschinellen Lernverfahren beruhen, trainiert, um die Wahrscheinlichkeit des langfristigen Behandlungsbedarfs einer neuen Patientin oder eines neuen Patienten vorherzusagen (eines für AMD und eines für RVO und DME).
Anhand der ersten drei Besuche konnte sowohl für die AMD- als auch für die RVO & DME-Gruppe mit ähnlich hoher Genauigkeit vorhergesagt werden, ob Patienten einen niedrigen oder hohen Behandlungsbedarf haben. Vor allem aber zeigte die Studie, dass es möglich ist, beim ersten Besuch und sogar vor der ersten Injektion eine relativ gute Vorhersage darüber zu treffen, ob ein Patient weniger oft Injektionen benötigen wird.
Drei Vorteile
«Wir haben gezeigt, dass Machine-Learning-Klassifikatoren den Behandlungsbedarf vorhersagen können, wenn bei einem Patienten erstmals eine chronische Augenerkrankung diagnostiziert wird», ordnet Mathias Gallardo, Postdoktorand am ARTORG AI in Medical Imaging (AIMI) Lab und Mitglied des neuen Center for Artificial Intelligence in Medicine (CAIM) die Studienergebnisse ein.
«Diese Ergebnisse zeigen, dass künstliche Intelligenz in naher Zukunft dabei helfen könnte, patientenspezifische Behandlungspläne für die häufigsten chronischen Augenerkrankungen zu erstellen», ergänzt Raphael Sznitman, Leiter des AIMI und Direktor des neuen Center for Artificial Intelligence in Medicine (CAIM).
Die Planung der idealen Behandlungsfrequenz für jede Patientin und jeden Patienten hat mehrere Vorteile. Erstens können Patienten sicher sein, dass ihre Krankheit bestmöglich behandelt wird, ohne sich zu häufigen Besuchen und unangenehmen Injektionen ins Auge unterziehen zu müssen. Zweitens kann eine individualisierte Planung den Kliniken helfen, mit ständig wachsenden Patientenzahlen umzugehen und spezialisierte medizinische Kompetenzen und Infrastrukturen bestmöglich auszulasten. Drittens hilft eine objektivierte Bedarfsplanung, Überversorgung zu vermeiden, die Kosteneffizienz zu verbessern und die Gesamtausgaben zu verringern.
Klinik, Datenwissenschaften und Industrie bringen Technologie zum Patienten
Diese Studie illustriert die bewährte Zusammenarbeit zwischen Klinikerinnen des Inselspitals und Datenwissenschaftlern des ARTORG Center, die direkt aus klinischen Bedürfnissen heraus alltagstaugliche Technologielösungen entwickelt. Ein weiterer wichtiger Baustein zur klinischen Umsetzung einer solchen Technologie war hier das Startup RetinAI. «Wir freuen uns sehr, dass wir die EU-Förderung, die wir erhalten haben, für den Aufbau von patientenorientierten Lösungen in der Augenheilkunde einsetzen können. Damit stellen wir sicher, dass die Technologie in Produkte umgewandelt werden kann, von denen die Patienten wirklich profitieren und die Behandlung im grossen Massstab verbessert werden kann», sagt Carlos Ciller, CEO von RetinAI. Mit seinem Hauptsitz in der sitem-insel befindet sich das Startup auch räumlich an der Schnittstelle zwischen Klinik und Wissenschaft. Dieses einzigartige Umfeld für klinisch getriebene KI-Technologien wird durch das neue Center for Artifical Intelligence in Medicine (CAIM) weiter ausgebaut.
Expertin, Experten:
- Prof. Dr.-Ing. Dr. med. Sebastian Wolf
Chefarzt und Co-Klinikdirektor, Universitätsklinik für Augenheilkunde, Inselspital Universitätsspital Bern - Prof. Dr. Dr. med. Martin Zinkernagel
Chefarzt und Co-Klinikdirektor, Universitätsklinik für Augenheilkunde, Inselspital, Universitätsspital Bern - Prof. Dr. med. Marion Munk
Oberärztin und Managing Director Bern Photographic Reading Center, Universitätsklinik für Augenheilkunde, Inselspital, Universitätsspital Bern - Dr. Mathias Gallardo
Postdoktorand, Artificial Intelligence in Medical Imaging Labor, ARTORG Center for Biomedical Engineering Research, und Mitglied Center for Artificial Intelligence in Medicine, Universität Bern
Kontakt via Medienstelle: Telefonnummer +41 31 632 79 25; kommunikation@ insel.ch
Originalpublikationen:
- https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2468653021001615
- https://www.nature.com/articles/s41598-021-86577-5
- https://www.nature.com/articles/s41598-019-49740-7
- iovs.arvojournals.org/article.aspx
- https://tvst.arvojournals.org/article.aspx?articleid=2772489
Links:
- Universitätsklinik für Augenheilkunde, Inselspital, Universitätsspital Bern www.augenheilkunde.insel.ch
- ARTORG Center AI in Medical Imaging Labor www.artorg.unibe.ch/research/aimi/index_eng.html
- Center for Artificial Intelligence in Medicine (CAIM) https://www.caim.unibe.ch/
- RetinAI https://www.retinai.com